Eine Reise zu Geflüchteten auf Lesbos

Unter dem Motto „#selberhinschauen“ sind Kathleen Kuhfuß, Sprecherin für Kinder-, Jugend- und Familienpolitik der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag, und Lucie Hammecke, Sprecherin für Europapolitik und Gleichstellung, am 16. August 2020 zunächst nach Athen und dann nach Lesbos gereist. Dort trafen sie in den folgenden Tagen auf zahlreiche Akteur*innen, die sich vor Ort mit der Situation der Geflüchteten beschäftigen und sich für deren Rechte einsetzen. Denn die Probleme rund um das Thema Asyl sind seit der Corona-Krise auf Lesbos noch komplexer und dramatischer. Nicht nur deshalb sollte besonders die deutsche Regierung jetzt aktiv werden, finden Kuhfuß und Hammecke: „Deutschland hat mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft eine große Verantwortung angenommen, eine europäische Antwort für Menschen auf der Flucht zu entwickeln.“
 
In ihrem Gespräch mit der Ständigen Vertreterin der Deutschen Botschaft, Heike Dettmann, und dem Botschaftsrat für Flucht und Migration haben Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke zunächst ergründet, welche Erwartungen die Griechen an die EU haben und wie eine Lösung der derzeitigen Probleme aussehen könnte. Aktuell herrschen in den Aufnahmelagern humanitäre Ausnahmezustände, eine faire Regelung zur Aufnahme und Verteilung der Geflüchteten existiert nicht, teils werden sie ohne rechtsstaatliches Verfahren zurückgewiesen oder auf das offene Meer geschickt. Die Aufnahmelager werden vor allem durch spendenfinanzierte NGOs am Laufen gehalten. „Für uns ist es nicht hinnehmbar, dass das Mittelmeer zum Massengrab für Menschen auf der Flucht wird“, erklären Kuhfuß und Hammecke. Im Gespräch mit der Botschaft wird für sie deutlich: Es braucht jetzt eine faire Aufteilung der Verantwortung zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und eine Entlastung der Länder an den Außengrenzen. (Hier gibt es weitere Informationen.)

Eine weitere wichtige Akteurin sind die NGOs, die sich vor Ort in Sachen Rechtsberatung engagieren. Ihre Arbeit ist mit der seit dem 1. Januar 2020 geltenden Fassung des griechischen Asylgesetzes, dem International Protection Act (IPA), noch bedeutender geworden. Denn das neu eingeführte „beschleunigte Verfahren“ auf den griechischen Inseln sieht vor, dass Geflüchtete nur einen Tag Zeit haben, sich auf ihre Interviews vorzubereiten. Für die Berater*innen der NGOs wie Greek Council for Refugess (GCR), HIAS, Legal Center Lesbos oder Fenix bleibt damit extrem wenig Zeit, sich in die Fälle einzuarbeiten und Hilfe zu leisten, berichten sie gegenüber den Bündnisgrünen-Abgeordneten. Aufgrund des Corona-Lockdowns ist es zudem nur noch einer beschränkten Anzahl an Personen aus den Lagern erlaubt, diese überhaupt zu verlassen und die Beratungsstellen der NGOs aufzusuchen. (Hier gibt es weitere Informationen.)
 
Im Gespräch mit Vertreter*innen des UNHCR und verschiedener Kinderschutzorganisationen erfuhren Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke mehr über die Situation von Kindern und Jugendlichen, die als Geflüchtete auf der Insel leben. Aktuell befinden sich in Moria mehr als 4.000 Kinder und Jugendliche, darunter 450 ohne Begleitung der Eltern oder eines für sie verantwortlichen Erwachsenen. Sie sind in vielen Fällen im wilden Teil des Camps alleine unterwegs und erhalten weder Schutz noch Unterstützung von den dortigen Verantwortlichen. Selbst im „geschützten Bereich“ kann jeder ein- und ausgehen. Die Kinder und Jugendlichen sind nachts alleine dort, Drogen, Sex gegen Geld und Gewalt sind hier Alltag für sie. Für Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke unhaltbare Zustände: „So kann kein Kinderschutz in Europa aussehen!“ Und auch bei der medizinischen Versorgung sind Verbesserungen dringend nötig: Ohne die Arbeit von NGOs wie beispielsweise „Ärzte ohne Grenzen“ gäbe es im Camp keine Notaufnahmen, keinen Kinderarzt, keine Medikamente, keine Covid-19-Station und auch keine Angebote zur Verhütung und Prävention. Stattdessen müssen sich die NGOs regelmäßig gegen Auflagen oder Bußgelder wehren. So musste „Ärzte ohne Grenzen“ vor kurzem seine Covid-19-Station abreißen und 35.000 Euro Strafe bezahlen, weil es keine Baugenehmigung gab – trotz Absprachen mit der lokalen Politik. (Hier gibt es weitere Informationen.)

Bei ihrer Recherche vor Ort entdeckten Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke aber auch ein paar Lichtblicke. Zum Beispiel ein paar kleinere Camps rund um das Hauptcamp Moria. Eines davon ist das „Kara-Tepe“ des UNHCR für Familien. Dort leben bis zu 1.300 Menschen in rund 200 Containern – mit Schule, Freizeitangeboten und viel Hilfe von Geflüchteten für Geflüchtete. In dem Camp dürfen nur Menschen leben, die als außerordentlich schutzbedürftig gelten. Meist sind dies Familien mit mindestens einem schwerkranken oder behinderten Familienmitglied. Die Familien warten dort auf ihr weiteres Verfahren und oft auf eine Weiterverteilung in andere EU-Länder. Das Camp ist kein Zuhause, es ist eine Transitstation, aber es ist ein Ort, an dem es zumindest Wasser, Duschen, feste Wände und Selbsthilfe gibt. Weitere Hoffnungsschimmer bieten den Geflüchteten das Bildungsprojekt „Mosaik“ und das Camp „PIKPA“. Doch die Förderung durch UNICEF für die Betreuung der bis zu 30 unbegleiteten Kinder bei „PIKPA“ soll Ende September eingestellt wird. Dann müssten die Kinder wieder ohne Schutz und Betreuung im Lager Moria leben. „Dies macht einmal mehr deutlich, dass die Betreuung nicht nur durch Ehrenamtliche geleistet werden kann und darf“, erklären Kuhfuß und Hammecke. (Hier gibt es weitere Informationen.)

Nach fünf Tagen auf der Insel besuchten unsere beiden Landtagsabgeordneten noch wilde Camps um Moria. Schon nach wenigen Blicken wird klar: Das ist kein Ort, um zu sein. Kein Ort, um Kinder großzuziehen. Und kein Ort, um sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten. Dem Camp fehlt jegliche Struktur. Abwasser läuft zwischen den Hütten und Zelten in den nächsten Bach, wilde Stromleitungen geben einigen Behausungen Energie und gefährden damit die wenigen Pumpen im Camp. Die Geflüchteten leben und schlafen zumeist in selbst gebauten Unterkünften aus Müll, Planen und Bauresten, manche in Zelten oder in seltenen Fällen auch in Containern. Momentan leben ungefähr 14.000 Menschen in Moria, im März sollen es 22.000 gewesen sein. Die Angst vor einer Ausbreitung des Coronavirus ist groß, doch Schutz kaum möglich. „Uns ist in den letzten Tagen noch einmal sehr deutlich geworden, dass die Menschen hier keine Chance haben, sich zu schützen: weder durch social distancing noch durch Händewaschen oder gar Desinfektion“, schildern Kathleen Kuhfuß und Lucie Hammecke. Das Fazit zu ihrer Reise: „Die Situation ist erbärmlich, menschenunwürdig und beschämend.“ (Weitere Informationen gibt es hier.)