Vor Ort im Camp auf Lesbos
Kein Ort um zu sein, kein Ort um Kinder großzuziehen und kein Ort um sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten. Nach zwei Covid-Tests und fünf Tagen auf der Insel gehen wir am frühen Morgen zum Camp. Wir werden nicht in den eng bebauten Teil des Lagers gehen, keine Krankenstation besuchen und auch bei keinem der vielen Selbsthilfeprojekten vor Ort reinschauen, denn hier ist wie überall in Europa die Angst vor einer Ausbreitung des Coronavirus groß. Uns ist in den letzten Tagen noch einmal sehr deutlich geworden, dass die Menschen hier keine Chance haben sich zu schützen: weder durch social distancing noch durch Händewaschen oder gar -desinfizieren.
Beim Blick über das Camp wird klar, hier gibt es keine Struktur, kein System und keine Infrastruktur. Die Abwässer laufen zwischen den Hütten und Zelten in den nächsten Bach, wilde Stromleitungen geben einigen Behausungen Energie und gefährden damit die wenigen Pumpen im Camp, gespielt wird im Dreck oder mit Dingen, die man in Deutschland seinem Kind niemals erlauben würde, in die Hand zu nehmen. Gelebt, geschlafen und gegessen wird zumeist in selbst gebauten Unterkünften aus Müll, Planen und Bauresten, manche in Zelten oder in seltenen Fällen auch in Containern.
Momentan leben ungefähr 14.000 Menschen hier, im März sollen es 22.000 gewesen sein. Es sei jetzt mehr Platz, es gäbe weniger lange Essensschlangen, aber an Tagen, an denen es Joghurt gibt, stehe man immer noch vier Stunden an und man könne jetzt auch schon nach 30 Minuten kalt duschen gehen, erzählt uns Mohamed, ein Afghane, auf dem Weg.
Die Situation ist erbärmlich, menschenunwürdig und beschämend. Wenn man auf dem Hügel über der Slumlandschaft steht, kommt die Wut auf und die Frage, ob das alles hier genauso gewollt ist. Genauso, damit sich eben keine neuen Flüchtlinge vom „fetten Europa“ angelockt fühlen; genauso, damit wir die Fragen, wie wir in Europa gemeinsam Verantwortung übernehmen können, nicht klären müssen; und genauso, damit wir unseren deutschen Wähler*innen keine Sorgen vor Veränderungen, kultureller Öffnung oder gar Solidarität machen müssen.
Der Weg um das Camp ist gesäumt von menschlichen Ausscheidungen, es stinkt. Eines ist klar: das ist kein akzeptabler Zustand. Nirgendwo – aber besonders nicht in einem europäischen Camp, mitten in einer Wertegemeinschaft.
Es ist einfach schrecklich und wir müssen jetzt etwas tun!